Mädchen steht am Fenster und liest einen Brief
© Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische

Entstehungsprozess des Gemäldes

Johannes Vermeer schuf das ausgewogen komponierte, malerisch brillante Gemälde „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ um 1657–1659 (Abb. 1). Es steht am Beginn einer Reihe stiller Interieurdarstellungen mit wenigen, auf eine intime häusliche Beschäftigung konzentrierten Figuren.

Entstehungsprozess des Gemäldes 2

Vermeer gibt den Blick in den hinteren Teil eines hohen Raumes frei, der durch einen Vorhang auf der rechten Seite zu etwa einem Drittel verdeckt wird. Vor dem geöffneten Fenster steht ein Mädchen in strengem Profil, das in das Lesen eines Briefes vertieft ist. Die Szene ist von großer Poesie und nahezu magischer Ruhe. Einige wenige Einrichtungsstücke, ein in die Ecke gerückter Stuhl, ein zwischen dem Betrachter und dem Mädchen stehender Tisch mit Teppich und Obstschale, geben dem Raum Orientierung. Der Tisch mit dem aufgeworfenen Teppich und der nach rechts geschobene Vorhang bilden im Vordergrund eine kompositorische Barriere, ein Repoussoir, das das visuelle Eintreten des Betrachters in diesen umschlossenen Raum erschwert.

Frau steht am Fenster eines Schlafzimmers und liest einen Brief
© Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische
1 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657–1659, Öl auf Leinwand

Entstehungsprozess des Gemäldes 4

Den Fragen der Innenraumdarstellung galt Vermeers zunehmende Aufmerksamkeit, nachdem sie in seinem heute bekannten Frühwerk keine Rolle spielten. Die Konturen des Zimmers der „Briefleserin“, dessen hintere linke Ecke im Schatten verschwindet, sind schwer fassbar. Der vor diese Ecke gestellte Stuhl und sein Schatten machen jedoch die Begrenzung des Raumes nach hinten deutlich. Der sichtbare Bereich der linken Wand wird durch das zweiteilige, geöffnete Fenster, über das ein roter Vorhang geschlagen ist, klar definiert. Das Mädchen, dessen Kopf sich exakt in der Bildmitte befindet, ist direkt vor dem Fenster positioniert. Es steht in etwa gleichem Abstand vom quer gestellten Tisch und dem Stuhl an der Rückwand in einem vergleichsweise engen Raum. Der Vorhang zur Rechten gehört dem Zimmer der „Briefleserin“ nicht an, sondern befindet sich deutlich in einer anderen, dem Betrachter näheren Bildebene. Er ist mittels zehn kleiner Ringe an einer Metallstange aufgehängt, die offenbar an einem Holzrahmen befestigt wurde. Scheinbar soeben zur Seite gezogen, gibt der Vorhang nun den Blick des Betrachters auf eine Szene frei, die ihm sonst wohl verschlossen ist. Vermeer verwendete das Trompe-l’œil-Motiv (Trompe-l’œil: französisch für „Augentäuschung“, d.h. eine illusionistische Malerei, die Dreidimensionalität vertäuscht) offenbar nur dieses eine Mal in seinem Werk. Darüber hinaus schuf er durch die Anordnung im Bildraum dicht hintereinander gesetzter, in ihrer Oberflächenwirkung sehr verschiedener Dinge eine nahezu perfekte Raumillusion (Abb. 2).

Entstehungsprozess des Gemäldes 5

Teppich und Obstschale
© Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische
2 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Detail

Entstehungsprozess des Gemäldes 6

Das frühe Werk „Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster“ überzeugt sowohl in seiner Gesamtwirkung wie in allen Details.

Im Zuge der Vorbereitungen für die aktuelle Restaurierung ist das Gemälde mehrfach mit strahlendiagnostischen Methoden (Röntgen, Infrarotreflektografie und Makro-Röntgenfluoreszenz-Analyse (MA-RFA) (Abb. 3)) sowie mit dem Stereomikroskop untersucht worden. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse lassen auf einen mehrstufigen, komplexen Entstehungsprozess schließen – ein wichtiges Indiz für die Schlüsselstellung, die das Gemälde im Werk Vermeers innehat.

Strahlendiagnostische Untersuchung
© SKD, Foto: Wolfgang Kreische
3 Makro-Röntgenfluoreszenz-Analyse (MA-RFA) mit einem mobilen Scanner zur Erzeugung von Elementverteilungsbildern

Entstehungsprozess des Gemäldes 7

Die Spiegelung der „Briefleserin“ in der Fensterscheibe stellt eines der besonders reizvollen Details des Gemäldes dar, wird doch so ein indirekter Blick auf das verschlossene Antlitz des Mädchens möglich (Abb. 4). Jedoch korrespondieren die Kopfneigung und die Haartracht nur bedingt, die Form seines Halsausschnitts gar nicht mit seinem Spiegelbild. Zudem ist die Spiegelung insgesamt bei der Position des Mädchens im Raum so nicht nachvollziehbar. Wie strahlendiagnostische Untersuchungen gezeigt haben, malte Vermeer die Figur der „Briefleserin“ in einer ersten Fassung ein wenig kleiner und weiter in die Rückenansicht gedreht, so dass sich ihr Gesicht im verlorenen Profil darstellte und stärker zum Fensterflügel hin geneigt haben wird (Abb. 5). Ihre Haltung ähnelte damit jenem Frauentypus, den Frans van Mieris (1635–1681) etwa zur gleichen Zeit in seinem Gemälde „Dame am Cembalo“ geschildert hat (Abb. 6). Es ist für Vermeers frühes Schaffen bezeichnend, dass er die im Prozess der Suche nach der idealen Position des Mädchens entstandene Unstimmigkeit später nicht behoben hat.

Spiegelung der Briefleserin in der Fensterscheibe
© Gemäldegalerie Alte Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Foto: Wolfgang Kreische
4 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Detail

Entstehungsprozess des Gemäldes 7 A

Vergleichsabbildung: Das Mädchen in der Blei-Karte der Röntgenfluoreszenz-Untersuchung/Eine Frau am Cembalo
© Rijksmuseum Amsterdam 2017, Foto: Dr. Annelies van Loon und Anna Krekeler / Schwerin, Staatliches Museum, Foto: Elke Walford
5 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Bleiverteilungsbild der Makro-Röntgenfluoreszenz-Analyse, Detail / 6 Frans van Mieris, Dame am Cembalo, 1658, Öl auf Holz, Staatliches Museum, Schwerin

Entstehungsprozess des Gemäldes 8

Im Vordergrund und in der rechten Bildseite erhielt das Gemälde erst im Laufe eines mehrstufigen Arbeitsprozesses sein heutiges Aussehen. Wie strahlendiagnostische Untersuchungen ergaben, hat Vermeer im Laufe des Malprozesses wenigstens drei grundverschiedene Varianten eines bildeinführenden Vordergrund-Motivs kompositorisch durchgespielt. Zunächst beabsichtigte er, durch das Einfügen eines Stuhls in den engen Raum zwischen vorderer Tischkante und unterem Bildrand einen zusätzlichen Bildraum zu schaffen. Der sogenannte Spanische Stuhl war derart vor der Langseite des Tisches positioniert, dass er dem Stuhl in der Zimmerecke etwa parallel gegenüberstand und von hinten zu sehen war. Deutlich zeichnet sich im Infrarotbild, im Bleiverteilungsbild der Makro-Röntgenfluoreszenz-Analyse (Abb. 8, helle Bildpunkte entsprechen einer hohen Konzentration des chemischen Elementes Blei an dieser Stelle) und in der Malerei des Teppichmusters die Kontur eines Löwenkopfes ab (zum Vergleich der Löwenkopf-Darstellung siehe Abb. 7 und Abb. 8).

Enstehungsprozess des Gemäldes 9 A

Vergleichsabbildung: Vermeers Mädchen mit rotem Hut/Kontur eines Löwenkopfes in der Blei-Karte der Röntgenfloureszenz-Untersuchung
© Foto: National Gallery of Art, Washington / Rijksmuseum Amsterdam 2017, Foto: Dr. Annelies van Loon und Anna Krekeler
7 Johannes Vermeer, Mädchen mit rotem Hut, um 1665-1666, Öl auf Holz, National Gallery of Art, Washington, D.C. / 8 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Bleiverteilungsbild der Makro-Röntgenfluoreszenz-Analyse, Detail

Entstehungsprozess des Gemäldes 9 B

Sie entspricht genau jener Form der geschnitzten Löwenköpfe, wie sie für die in den Niederlanden zu Vermeers Zeit weit verbreiteten „Spanischen Stühle“ charakteristisch sind (Abb. 9).

Palisanderstuhl, Lehne und Sitz aus Kalbsleder
© Foto: Rijksmuseum Amsterdam
9 „Spanischer Stuhl“, Niederländisch, um 1640/50, Palisander, Kalbsleder, Rijksmuseum Amsterdam

Entstehungsprozess des Gemäldes 9 B

In einer weiteren Version plante Vermeer, durch die Platzierung eines Römers am rechten unteren Bildrand den Effekt von Tiefenräumlichkeit zu steigern. Das im Röntgenbild gut sichtbare Weinglas war mit rund 18 Zentimetern Höhe mehr als halb so groß wie die Mädchenfigur und stand außerhalb des Bildraumes, wahrscheinlich auf einem illusionistisch gemalten Fensterrahmen (Abb. 10 und Abb. 11).     

Entstehungsprozess des Gemäldes 10

Vergleichsabbildung: Röntgenaufnahme des Römers/Glas, Römer
© Foto: SKD / Foto: Rijksmuseum Amsterdam
10 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, Röntgenaufnahme, Detail / 11 Römer, unbekannter Künstler, 1644, Glas, Rijksmuseum Amsterdam

Entstehungsprozess des Gemäldes 11

Diese bemerkenswerte räumliche Organisation war in Delft nicht ohne Vorbilder: Sie findet sich ähnlich in einer im Rijksprentenkabinet Amsterdam bewahrten Zeichnung Leonaert Bramers (1596–1674), eines angesehenen Delfter Malers, der in persönlichem Kontakt zu Vermeers Familie stand (Abb. 12). Die Idee eines Vordergrundmotivs als raumstiftender Blickfang wurde von Vermeer jedoch wieder aufgegeben.

Zeichnung eines rauchenden Mannes
© Rijksmuseum Amsterdam, Rijksprentenkabinet, Foto: Rene den Engelsman
12 Leonaert Bramer, nach Adam Pick, Mann mit Pfeife an einem Tisch, um 1652/53, Zeichnung, Rijksmuseum Amsterdam, Rijksprentenkabinet

Entstehungsprozess des Gemäldes 12

Mit dem Hinzufügen eines gemalten Vorhangs, der das Auge täuscht und ihm gegenständliche Präsenz vorspiegelt, entschied Vermeer sich schließlich für die radikalste Lösung der Abgrenzung der Interieurszene vom Betrachter. Er führte eine neue, vor dem dahinterliegenden Bild befindliche Raumzone in sein Gemälde ein (Abb. 13).

Zur Klärung der räumlichen Situation im Gemälde wurde das Zimmer in Vermeers „Brieflesendem Mädchen“ rekonstruiert (Abb. 14). Die modellhafte Rauminszenierung erfolgte anlässlich der Ausstellung „Der frühe Vermeer“ (3.9.–28.11.2010 in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden) als Gemeinschaftsprojekt der Gemäldegalerie Alte Meister Dresden mit der Hochschule für Bildende Künste Dresden, der Technischen Universität Dresden (Fakultät für Informatik und Fakultät für Mathematik, Institut für Geometrie) und der Volkshochschule Dresden.

Enstehungsprozess des Gemäldes 9 A

Vergleichsabbildung: Vermeers Gemälde: Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster/Fotografie des rekonstruktruierten Raumes
© SKD, Foto: Wolfgang Kreische / Foto: Thomas Scheufler, Kulturmanagement
13 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657–1659, Öl auf Leinwand / 14 Rekonstruktion des Raumes in der Ausstellung „Der früher Vermeer“, Gemäldegalerie Alte Meister Dresden 2010

Entstehungsprozess des Gemäldes 12

Das Motiv des Vorhangs und des ebenfalls vorgeblendeten, gemalten Rahmens als besondere Spielart illusionistischer Malerei findet sich mehrfach in der Delfter Kunst seit Anfang der 1650er Jahre. Gemälde mit einem ähnlichen Trompe-l’œil-Effekt wie etwa Gerard Houckgeests „Inneres der Oude Kerk in Delft“ (1654, Amsterdam, Rijksmuseum) (Abb. 15) werden Vermeer sicher vertraut gewesen sein. Der Unterschied im Größenverhältnis des Vorhangs zum dahinter liegenden Interieur ist bei Vermeer jedoch weit geringer als in den Kircheninterieurs, was das Verständnis der Raumverhältnisse in der „Briefleserin“ stark erschwert. Die in sich abgeschlossene Szene im Innenraum mit der scheinbar in Bewegungslosigkeit verharrenden, introvertierten Mädchengestalt wirkt wie im Moment erstarrt. Die Einzigartigkeit dieser Momentaufnahme wird durch den Trompe-l’œil-Vorhang in diesem Sinne gesteigert. Durch den Vorhang verdoppelte der Künstler den Effekt der Augentäuschung, indem er drei illusionistisch perfekt wiedergegebene Raumzonen hintereinander anordnete – eine Herausforderung für den Betrachter (Abb. 16).

Entstehungsprozess des Gemäldes 10

Vergleichsabbildung: Blick in die Oude Kerk in Delft/Frau steht am Fenster eines Zimmers und liest einen Brief
© Rijksmuseum Amsterdam, Foto: Frans Pegt / SKD, Foto: Wolfgang Kreische
15 Gerard Houckgeest, Inneres der Oude Kerk in Delft, 1654, Öl auf Holz, Rijksmuseum Amsterdam / 16 Johannes Vermeer, Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster, um 1657–1659, Öl auf Leinwand

Entstehungsprozess des Gemäldes 14

Eine Vielzahl eigener Beobachtungen und visueller Erfahrungen, kombiniert mit künstlerischen Experimenten und räumlich-praktischen Versuchsanordnungen sowie äußeren Anregungen und Einflüssen werden den Entstehungsprozess des „Brieflesenden Mädchens“ befördert haben. Schon dieses frühe Interieur zeugt vom souveränen Umgang Vermeers mit den künstlerischen Mitteln der Stilisierung und der kompositorischen Balance, der Lichtregie und der illusionistischen Raumdarstellung. Die Untersuchung des Bildes hat zudem deutlich gemacht, wie Vermeer im Entstehungsprozess der „Briefleserin“ den Weg von einer gewissen Offenheit zur zunehmenden Verhüllung und Abgeschlossenheit der Darstellung gegangen ist. Auch darin wurde das Gemälde zum Maßstab für alle seine folgenden Genrebilder.

Entstehungsprozess des Gemäldes 15

Der tatsächliche Ablauf der Bildentstehung lässt sich bislang noch nicht bis ins Detail klären. Weitere Untersuchungen werden derzeit im Rahmen der Restaurierung des Gemäldes durchgeführt und nach deren Abschluss an dieser Stelle der Öffentlichkeit vorgestellt.

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