Entstehungsprozess des Gemäldes 4
Den Fragen der Innenraumdarstellung galt Vermeers zunehmende Aufmerksamkeit, nachdem sie in seinem heute bekannten Frühwerk keine Rolle spielten. Die Konturen des Zimmers der „Briefleserin“, dessen hintere linke Ecke im Schatten verschwindet, sind schwer fassbar. Der vor diese Ecke gestellte Stuhl und sein Schatten machen jedoch die Begrenzung des Raumes nach hinten deutlich. Der sichtbare Bereich der linken Wand wird durch das zweiteilige, geöffnete Fenster, über das ein roter Vorhang geschlagen ist, klar definiert. Das Mädchen, dessen Kopf sich exakt in der Bildmitte befindet, ist direkt vor dem Fenster positioniert. Es steht in etwa gleichem Abstand vom quer gestellten Tisch und dem Stuhl an der Rückwand in einem vergleichsweise engen Raum. Der Vorhang zur Rechten gehört dem Zimmer der „Briefleserin“ nicht an, sondern befindet sich deutlich in einer anderen, dem Betrachter näheren Bildebene. Er ist mittels zehn kleiner Ringe an einer Metallstange aufgehängt, die offenbar an einem Holzrahmen befestigt wurde. Scheinbar soeben zur Seite gezogen, gibt der Vorhang nun den Blick des Betrachters auf eine Szene frei, die ihm sonst wohl verschlossen ist. Vermeer verwendete das Trompe-l’œil-Motiv (Trompe-l’œil: französisch für „Augentäuschung“, d.h. eine illusionistische Malerei, die Dreidimensionalität vertäuscht) offenbar nur dieses eine Mal in seinem Werk. Darüber hinaus schuf er durch die Anordnung im Bildraum dicht hintereinander gesetzter, in ihrer Oberflächenwirkung sehr verschiedener Dinge eine nahezu perfekte Raumillusion (Abb. 2).